Gus van Sant erwischte mich mit „My Own Private Idaho“ – noch nie hatte ich einen solch‘ wuchtigen Film gesehen, der so ruhig war.
van Sants Kunst liegt für mich in der Auslassung. (Ich wollte schon immer mal grammatikalisch korrekt einen Satz mit einem kleinen Buchstaben beginnen :-)
Er ist mutig genug, das aus dem Design bekannte „Mut zur Lücke“ auf Film zu übertragen. Das geht teilweise so weit, dass manche ihm vorwerfen, „Gerry“ sei eine einzige Lücke. „Gerry“ ist für mich aber genau der Film, bei dem van Sants Kunst am klarsten zu Tage tritt. Es geht um Gerry (Matt Damon) und Gerry (Casey Affleck), die sich auf einen Trip in die Wüste begeben, um ein nicht näher beschriebenes Ding „the thing“ zu erkunden. Statt „Waiting for Godot“ folgt nun „Walking for Godot“ – denn die beiden verirren sich schon ganz zu Anfang des Filmes und versuchen ab da, einen Ausweg zu finden. Dabei reden sie kaum miteinander. Sie laufen einfach. Es gibt eine Einstellung im Film, die eine meiner „Lieblingseinstellungen aller Zeiten“ ist: wir sehen eine Nahaufnahme, bei der wir uns seitlich der Charaktere befinden und deren Profil sehen – Matt Damon im Hintergrund, Casey Affleck im Vordergrund. Die beiden laufen über den trockenen Wüstenboden. Für 3 Minuten und 15 Sekunden wird das Geräusch der Schritte und die Bewegung der Köpfe zu einem Rhytmus, dessen meditativem Charakter ich mich nicht mehr entziehen konnte. Im gesamten Film hören wir nur ab und an zart Arvo Pärts „Alina“ und „Spiegel im Spiegel“ durchklingen. Das ist der einzige artifizielle Sound, den van Sant uns erlaubt und der nötig ist.
Wohin (uns!) die Reise führt und was am Ende passiert ist nicht so wichtig, wie der Weg, den die beiden zurücklegen und deshalb fand ich den Film, der diese einfache Philosophie so perfekt in Bilder übersetzt, wunderbar und poetisch.
Gus van Sant überträgt viele Techniken, die man aus der Fotografie kennt auf den Film: Doppelbelichtungen etwa oder Langzeitbelichtungen. Seine Einstellungen sind immer so aufgebaut, dass man fast jeden Frame auch als Bild ausdrucken und an eine Wand hängen könnte.
Außerdem ist er ein Meister des Zeitraffers – und dabei mag er offensichtlich vor allem Wolken – ein Motiv, welches in vielen seiner Filme immer wiederkehrt – am eindringlichsten für mich in „My Own Private Idaho“. Aber auch in „Elephant“ erinnere ich mich an diese Bilder.
Das erstaunliche an van Sant ist, seine Fähigkeit, mühelos zwischen gefälligem und anspruchsvollem Mainstreamkino (Good Will Hunting, Finding Forrester) und intellektuellem Independentkino (Elephant, Gerry, Last Days) zu wechseln und in beiden Disziplinen zu brillieren. Ein Talent, was beispielsweise Steven Soderbergh, der dies auch öfter versucht, für mich nicht hat – Soderbergh ist beim Unterhaltungskino einfach besser, als bei seinen Filmexperimenten (Full Frontal).
van Sant stellt mit seinen Filmen existentielle Fragen. Ihn interessieren keine Oberflächlichkeiten, er zeigt Fassaden so lange, bis sie bröckeln. Er arbeitet in oft mit Laiendarstellern zusammen (die extremsten Beispiele sind hier Elephant und Paranoid Park) und hat keine Angst vor gigantischen, übergroßen Gefühlen.
Und er hat Humor. Mit „Even Cowgirls Get The Blues“ verfilmte er eines meiner Lieblingsbücher von Tom Robbins – eine Geschichte über eine Tramperin mit einem übergroßen Daumen, gespielt von der fabelhaften Uma Thurman, die am Ende ihrer Reise auf einer Farm mit lesbischen Cowgirls landet. Außerdem brachte er sogar Nicole Kidman auf Hochtouren – in der tiefschwarzhumorigen Mediensatire „2 Die 4“, in der Kidman eine überehrgeizige Wetterfee spielt, die nicht immer mit sauberen Mitteln arbeitet.
Frauenfiguren bei van Sant sind immer interessant – sie sind Mutter, Geliebte, Veehrte. Sie sind nie psychotisch oder hysterisch. Auch seine Männerfiguren sind ungewöhnlich – sie haben den Mut, Gefühle zu zeigen, mit kleinen Worten und in großen Gesten.
Wenn David Fincher Technik ist, Paul Thomas Anderson eine Kombination aus Technik und Gefühl, so ist Gus van Sant reines Gefühl.
Meine Top-5-van Sant-Momente
5. Paranoid Park: Zwei Skateboarder in einer Röhre, bei der die Beleuchtung nur das „Licht am Ende des Tunnels“ ist skaten zum „Song Two“ von Ethan Rose.
4. Elephant: Alex (Alex Frost) und Eric (Eric Deulen) verbringen einen gemeinsamen Nachmittag: Alex spielt Klavier (Beethovens Mondscheinsonate & Für Elise), während Eric liest und sich dann lakonisch mit einem Egoshooter-Spiel beschäftigt.
3. Good Will Hunting: der Psychologe Sean Maguire (Robin Williams) versichert Will (Matt Damon) immer wieder „du kannst nichts dafür“, bis dieser es auch glaubt.
2. My Own Private Idaho: die Eröffnungssequenz, bei der wir Mike (River Phoenix) zum ersten Mal treffen und einen seiner Narkolepsieanfälle erleben.
1. Gerry: die oben erwähnte Endloseinstellung, in der Gerry und Gerry 3 Minuten und 15 Sekunden miteinander laufen.